Thüringer Allgemeine vom 03.04.2009

Wunsch nach Freiraum


Einst waren besetzte Häuser Ausdruck alternativer Kultur bald könnte das letzte leer sein
Heute wird ein Urteil im Prozess gegen die Erfurter Hausbesetzer erwartet. Es könnte das Ende eines weit über Thüringen hinaus bekannten Projektes einläuten. Das Haus auf dem Gelände von Topf & Söhne war einmal eins von vielen besetzten Objekten Thüringens. Nun ist es das einzige.
Von Malte WICKING

Heute könnte etwas enden, das viele gestört hat. Ein Ort der Subkultur. Der illegal war, ohne Frage. Deshalb könnte der Eigentümer des Geländes, Helmut Golla, es einfacher haben. Der Geschäftsführer der Mühlhäuser Baufirma Domicil könnte das Grundstück einfach räumen lassen. Dass er am Plenum der Besetzer teilnahm, verhandelte, schließlich ohne Not vor Gericht zog, werten viele als Ausdruck von Besonnenheit.
Bei den Besetzern spricht man von Zermürbungstaktik, nach dem Wasseranschluss wurde am 1. April auch der Strom abgestellt. Aber sie wollen nicht nachgeben, ohne ein Ersatzobjekt zu bekommen. Eines, das groß genug ist für die rund 30 Bewohner. Die Besetzer fordern das, obwohl sie wissen, sie haben keinen Anspruch darauf. Das ist ihnen nicht nur egal sie wollen es so.

Wir zeigen, wir machen nicht alles mit, sagt Pascal, der eigentlich anders heißt. Er ist ein Sprecher der Gruppe, für ihn ist das illegale Wohnen etwas Politisches: ein Freiraum, in dem alternative Kultur einen Platz findet, den der Markt ihr nicht gibt. Die Firma Topf & Söhne nutzte das Gelände während des Nazi-Regimes zur Herstellung von Verbrennungsöfen für Vernichtungslager, auch für Auschwitz und Buchenwald. Den Autonomen dient der Ort nicht nur als Wohnraum. Konzerte und Lesungen finden hier statt, Partys und politische Vorträge, es gab einen Bücherladen und bis zu Beginn der Abrissarbeiten historische Führungen.
Die Szene der Besetzer wandelt sich ständig, es gibt schließlich keine formelle Mitgliedschaft. Immer wieder gehen Leute, kommen neue hinzu. Generationswechsel passieren hier alle paar Jahre, und doch sind ihre Wünsche heute oft die gleichen wie bei jenen, mit denen die Besetzungen vor gut 20 Jahren ihren Anfang nahmen. Es ging um Freiräume, in denen man Leben und Kultur nach eigenen Vorstellungen organisieren kann, sagt Christoph Ellinghaus. Der 39-jährige Mitarbeiter der IG Metall gehörte 1992 zu den Besetzern eines Hauses in der Erfurter Lasallestraße. Man wollte frei sein von Vorschriften, aber auch von der Marktlogik des Kapitalismus, den die linken Besetzer auf unterschiedlich radikale Weise ablehnten. "Es war eine besondere Zeit, so kurz nach der Wende", erinnert sich Ellinghaus: Alles schien möglich, fasst er die Atmosphäre zusammen, die mit dem Alltag oft nicht zusammenpasste. Es gab massenhaft leere Gebäude, die Besitzverhältnisse waren oft unklar. Zugleich sei es jungen Menschen kaum möglich gewesen, Wohnraum zu bekommen: Also haben wir uns einfach etwas genommen. In Nordhausen und Gera, in Weimar, Jena, Erfurt, aber auch in kleineren Städten besetzten meist junge Menschen in diesen Jahren leere Häuser. Das Haus, wie viele im Umfeld der Erfurter Besetzer es lapidar nennen, ist das letzte von ihnen.

Einige wurden geräumt, viele aufgegeben, weil die Gruppen sich auflösten, wenige wurden legalisiert. So blieben Freiräume auf rechtlichen Grundlagen erhalten, in denen zumindest ansatzweise der Traum von der selbstbestimmten Kultur wirklich wurde. Die Gerberstraße in Weimar ist heute ein Verein, auch in Jena gibt es ein besetztes Haus, das noch so heißt, aber legal ist. Das Autonome Jugendzentrum Erfurt, als sogenannte Banane eine der ersten Besetzungen nach der Wende, ist seit Mitte der 1990er offiziell.
Auch Astrid Rothe-Beinlich war dort unter den Besetzern, heute gehört sie als Thüringer Grünen-Chefin und Mitglied im Bundesvorstand ihrer Partei zum deutschen Establishment. Den Wunsch nach Subkultur gibt es auch heute, glaubt Rothe-Beinlich: "Wenn man dafür keine Räume hergibt, nehmen sich die Menschen wieder welche." Viele Projekte wurden einige Zeit nach der Legalisierung geschlossen, etwa das selbstverwaltete Erfurter Jugendzentrum Korax, das 1998 einem Parkplatz wich.
Legalisiert werden wollen die Erfurter Besetzer deshalb lieber nicht. Sie haben mit der Stadt über andere Objekte verhandelt und diese als zu klein abgelehnt, aber eine Besetzung wäre schöner, findet Pascal. Er fürchtet, dass die Stadt bei einem offiziellen Projekt Einfluss nehmen könnte. Ex-Besetzer Ellinghaus kann den Wunsch der Besetzer nach Selbstverwaltung verstehen, auch rechtlich müsse eine Besetzung nicht zwangsläufig Folgen haben: "Wem schadet es, wenn das Gebäude ohnehin leer steht? Massenhafter Leerstand ist viel schlimmer für die Demokratie."

Im Fall Topf & Söhne ist das schwieriger zu rechtfertigen. Die Rechtslage ist klarer als nach der Wende, das Erfurter Gelände hat zudem seit 2007 einen Besitzer, der seine Rechte wahrnehmen will.
So wird das besetzte Haus in Erfurt womöglich ein Ende nehmen, dessen Verlauf einzigartig ist: Der Besitzer entscheidet sich gegen eine Räumung und verhandelt monatelang. Schließlich beginnt er aus diplomatischen Gründen einen Prozess, der ihm nicht einmal nützen muss, weil viele der Beklagten gar nicht im Gebäude wohnen.