... dann möchte ich doch lieber kein Anarchist sein
Vorbemerkung: Wenn es im folgenden
um Anarchismuskritik geht, ist das Anliegen des Autors gerade NICHT
einen wie auch immer gearteten Kommunismus abzufeiern. Die hier
kritisierten Ideologiestücke sind ebenso in der autonomen
Szene wie auch in kommunistischen Gruppen & Diskussionen
anzutreffen. Wenn im folgenden also kein gutes Haar an der Anarchie
bleibt, dann nicht um Anarchistinnen als Idioten darzustellen,
sondern um gemeinsam zu einer treffenden Analyse, Kritik und damit
auch Praxis zu kommen.
Maximal ein Mittelgebirge
Gipfelsturm, eine
G8-Mobilisierungsbroschüre, deren Anliegen grundsätzlich
ein Lobenswertes ist, nämlich eine genauere Kritik am
Kapitalismus als G8=böse zu liefern, stellt auch den
Anarchismus vor. Das ist durchaus naheliegend, denn der zentrale
Punkt der Argumentation gegen die bürgerliche Gesellschaft ist
Herrschaftskritik. Kapitalismus, Sexismus, Rassismus, Speziesismus
(Unterdrückung von Tieren) und alles andere ist Herrschaft, so
die These. All diese Dinge glichen sich im Kern, nur der Ausformung
nach seien sie verschieden. Dabei verrühren die Autor(inn)en
die unterschiedlichsten negativen Erscheinungsformen mit Ursachen
der bürgerlichen Gesellschaft und mit völlig banalen
Dingen. Kapitalismus etwa, der alle Menschen zueinander in
Konkurrenz setzt, so dass auch der reichste Kapitalist prinzipiell
bedroht ist, der sich also unpersönlich vollzieht,
funktioniert jedoch völlig anders als z.B. Sexismus. Die
Diskriminierung von Frauen auch noch mit dem Halten eines Hundes
gleichzusetzen, der sich nicht mal bewusstmachen kann, dass er
unterdrückt wird, ist wahrhaft grotesk. Wieso irgend jemand
ein Interesse an Herrschaft haben soll und hat, warum sie
a-personale Herrschaft und unsägliche Konstruktionen wie
Speziesismus in einem Atemzug nennen, diese Fragen werden nur am
Rande behandelt, Herrschaft ist es ja alles allemal.
name one thing government does,
the people cannot do themselves
Wie untauglich diese Betrachtung
ist, lässt sich eindrucksvoll in der Broschüre schwarz
nachlesen, welche für die 2. anarchistische Woche in Hannover
unter dem Motto ja! (Sprache ist so verräterisch) mobilisiert.
Am Antirassismustag kann bei der anarchistischen Woche gehört
werden warum rassistische Hetze von oben in der Gesellschaft mehr
und mehr Akzeptanz findet. Diese - im Kern
marxistisch-leninistische - Ansatz, der Ideologie nur als eine
geschickte Lüge der Herrschenden begreift, ist notwendige
Ideologie derjenigen, die Selbstorganisation gegen die
kapitalistische Zivilisation stellen. Eine genauere Betrachtung des
Gegenstandes würde nämlich zu Tage fördern, dass die
Pogrome in Rostock und Hoyerswerda ziemlich selbstorganisierte
Angelegenheiten waren. Auch die Mordslust bei der Jagd auf
Kinderschänder und Drogendealer ist ziemlich
selbstorganisiert, von der Todesstrafe redet der Mob, nicht die Elite. Der
Selbstorga-Slogan name one thing government does, the people cannot
do themselves (dessen Antwort so banal wie ins Auge springend
ist: verhindern, dass sich die Konkurrenten gegenseitig
massakrieren) lässt sich leicht umdrehen. Den Pogrom
veranstalten die people ganz selbstorganisiert, government
lässt sie nur gewähren. Auch dafür sich qua
Konkurrenz gegenseitig das Leben schwer zu machen, sorgen die
people ganz alleine, völlig selbstorganisiert. Wenn wir hier
unten mal so richtig toben (Quetschman), dann ist ein deutscher
Aufstand samt brennender Synagogen zu befürchten. Dass diese
Anarchist(inn)en die Verhältnisse nicht nur fortschrittlich
kritisieren, machen sie an anderer Stelle deutlich. In Anlehnung an
die antireligiöse Schrift die Gottespest werden Computer zur
neuen Pest verklärt: Die herrschende Ideologie werde in Hard-
und Software materialisiert. Das nährt den Verdacht die
Autor(inn)en wollen zurück zur feudalen Gesellschaft ohne
moderne Technik und dem Fehlen öffentlichen Rechts
(einklagbare Freiheit, Gleichheit, Staat) - antimodern eben. Aber
ich schweife ab.
Antitotalitäre Reflexe
Sie - jetzt wieder Gipfelsturm
-schreiben das Streben nach Anarchie sei so alt wie die menschliche
Zivilisation, nur die Diffamierungen von PolitikerInnen, Kapital
und Kirche würden die Gesellschaft ohne Staat und Herrschaft
verunmöglichen. Damit fallen sie zum einen hinter ihre eigenen
theoretischen Erwägungen zurück, dass Herrschaft - sagen
wir mal Ideologie zuweilen auch ohne Masterplan der Herrschenden
entsteht. Dass längere theoretische Erwägungen suspekt
sind, schreiben sie aber in ihrer Polemik gegen den Marxismus.
Marxismus sei eine in sich geschlossene philosophisch und
wissenschaftlich durchdachte Theorie (Pfui, sowas aber auch) und
soll im orthodoxen Sinn für alle Ewigkeit gelten (Als wenn es
nicht das Ziel aller Kritik sei den Gegenstand den sie behandelt
aufzulösen). Dieser Antikommunismus mag ja aufgrund diverser
historischer Erfahrungen verständlich sein, wer die
Autor(inn)en aber ernst nehmen und sie nicht zu trotzigen Kindern
verniedlichen will, muss diesen Reflex grundsätzlich
kritisieren. Denn der Antikommunismus, den diese Anarchist(inn)en
mit deutschen Bürger(inne)n jedes Couleurs teilen, zieht sich
durch viele anarchistische Publikationen. Im bereits erwähntem
Prospekt schwarz wird für anarchistische Plakate mittels
Der Kampf gegen den Faschismus beginnt mit dem Kampf gegen den
Bolschewismus geworben. Das sagt auch der Thüringer
Verfassungsschutz und ist kräftig am Werke gegen den
Extremismus von links und rechts. Diesen Anarchist(inn)en scheint
aber auch diese Eindeutigkeit zu viel. Irgendwie können sich
alle die Sache selbst zurecht legen, solange sie sich nur
Anarchist(inn)en nennen. Da werden auch Antisemiten wie Silvio
Gesell integriert.
Stell dir vor es ist Anarchie und keine(r) merkt es
Dennoch werden Kriterien für die gemeinsamen Ziele festgemacht. Ob alle Anarchist(inn)en diese
Kriterien teilen ist zweifelhaft. Wie diese Anarchist(inn)en zu
diesen Gemeinsamkeiten kommen, wird gar nicht erst
erwähnt.
Neben durchaus vernünftigen Vorstellungen steht
da eben auch eine ganze Menge Mist, um die soll's im folgenden
gehen:
Vernunft tritt anstelle der Religion
als Opiums fürs Volk. Das lässt hoffen, dass zumindest
nach der Revolution ein Interesse an philosophisch und
wissenschaftlich durchdachten Theorien besteht. Individuelle
Haltungen und Handlungen in Glaubenssachen sind natürlich
Privatsache. Oder eben auch nicht und wenn die Religion sagt, dass
Steine eine Persönlichkeit haben, dann sagt die Religion das
eben. Nicht kritisieren, ist privat. Die Kirchen mit ihrer Religion
als Instrument der Herrschaft (Gott über Mensch, Elite
über Normalbevölkerung, Mann über Frau) werden
jedoch abgeschafft. Na immerhin etwas, aber eine Anmerkung muss
gestattet sein. Erst war - zum Beispiel - die Bibel, dann kam die
Kirche. Der ganze Mist steht in der Bibel.
In freien Schulen wird die
Entwicklung der Persönlichkeit und Autonomie der Kinder
gefördert. Oder mit den Worten der CDU Die Schule soll Kinder und Jugendliche
durch Wissen, Bildung zu wertgebundener Freiheit hinführen und
zur staatsbürgerlichen Mündigkeit befähigen.
Befreite Gesellschaft und christlichabendländische
Kultur, it's all one struggle, it's all one fight.
Eine menschenfreundliche, Lebewesen
und Natur respektierende Wissenschaft löst die Wissenschaft im
Dienste der Konzerne ab (Forschungs- und Entwicklungsabteilungen),
die Menschen als Humanressourcen, Tiere als Ware und die Umwelt als
auszubeutendes Objekt versteht. Als was denn bitte sonst? Als
Subjekt, dass es zu respektieren gilt. Der Stein hat -anscheinend -
eine Persönlichkeit, die es zu achten gilt. Dann setzen wir
uns alle mal zusammen - Menschen, Einzeller, Steine, Pflanzen,
Tiere - und verhandeln unsere Interessen.
Statt der Projektion eigener
Wünsche auf medial konstruierte Stargestalten, verwirklichen
sich die Menschen selbst. Was ist denn jetzt bitte das Selbst der
Menschen und wieso kann ich mich nicht selbst verwirklichen beim
MTV gucken. Müssen wir dann alle - dank Aufbau der neuen,
freien Kultur - do-it-yourselft PunkHardcoreCrust machen und
hören. Oder werde ich zuweilen auch mal andere Aktivist(inn)en
toll finden?
Zusammenschlüsse emotionaler
Art (Paare, Großfamilien, Kommunen) entstehen auf freier
Willensbekundung und werden nicht zertifiziert. Eine Wahrhaft
revolutionäre Forderung, hier in der Metropole. Denn
bekanntlich ziehen in der BRD äußerst selten Leute
zusammen, die sich mögen.
Wenn das alles ist, wenn das
Anarchie ist, dann möchte ich doch lieber kein Anarchist sein.
Da ist mir arbeitslos, Arsch anne Heizung sowie Saufen und Sachen
anzünden lieber.
Charly (KPFiHVV)
Gipfelsturm & schwarz gibt's im
Infoladen Sabotnik (Mo-Di-Do-So 16-19 Uhr in der Moritzstraße
26). Das Kapital von Karl Marx und Computer übrigens auch. MTV
leider nicht.