Flugblatt zum 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz

Auschwitz und heute


Mit dem heutigen Datum jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau zum 60. mal. Obwohl es dort damals nichts mehr zu befreien gab - der Holocaust praktisch bereits abgeschlossen war - ist es wichtig dieses Datums zu gedenken. Am 27.01.1945 offenbarte sich der Roten Armee das ganze Grauen der industriell betriebenen Vernichtung des europäischen Judentums. Nun gab es keinen Zweifel mehr, dass der deutsche Nationalsozialismus seine antisemitische Ideologie konsequent umgesetzt hat. Warum ist das 60 Jahre, also fast ein ganzes Menschenleben später, noch wichtig? Einige Betrachtungen dazu:

Antisemitismus wieder auf dem Vormarsch.

Weltweit wächst wieder das Ressentiment gegenüber Jüdinnen und Juden. Nicht erst seit dem Attentat auf die Twin Towers in New York grassieren wieder verstärkt Weltverschwörungstheorien, die den Juden und Jüdinnen die Weltherrschaft und dunkle Machenschaften unterstellen. Mit der zunehmenden Krise der kapitalistischen Gesellschaft und der Verschärfung der Konkurrenz nimmt wieder das Bedürfnis nach der/m universalen Schuldigen zu. Diese universal Schuldigen waren von je her das "(Anti-)Volk" der Juden / Jüdinnen. Die Ideologie, die zu Auschwitz führte, der Antisemitismus im deutschen Nationalsozialismus, gewinnt wieder an gesellschaftlicher Relevanz. Übergriffe auf bekennende Jüdinnen und Juden, Friedhofschändungen und Hetze sind schon wieder weltweite Normalität. Deutschland macht dabei, trotz dass es sich gerne geläutert gibt, keine Ausnahme. Im Gegenteil:

(Deutsche) PatriotInnen sind (gefährliche) IdiotInnen

In Deutschland lässt sich der Antisemitismus lange nicht auf Rechtsradikalismus und einen Haufen geistig unterbelichteter Glatzen reduzieren. Er kommt verstärkt aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft, sogar von DemokratInnen. Walser, Möllemann und Hohmann sind keine Neonazis, sie sind Demokraten und bedienen mit ihren Äußerungen breite Teile der deutschen Bevölkerung. Die Schlussstrichdebatte Walsers, Möllemanns verschwörungstheoretisch geprägter Angriff auf Michel Friedman, Hohmanns wirrer Redebrei mit antisemitisch und antikommunistisch aufgepeppter Totalitarismusthese und christlichem Fundamentalismus sind gesellschaftlich verankert im Deutschen Patriotismus. Dieser kann zwei Sachverhalte deutscher Geschichte nicht für sich vereinnahmen: Auschwitz und die innerdeutsche Mauer. Im Umkehrschluss muss beides irgendwie entsorgt werden. Bei Auschwitz passiert dies durch die Schlussstrichdebatte oder Vereinnahmung (der Kosovokrieg wurde ausdrücklich "wegen Auschwitz" geführt, um eine Wiederholung dessen zu verhindern). Die Schlussstrichdebatte wird dabei mit dem Kampfbegriff der Normalität geführt: "Wir Deutsche" wollen auch eine "normale Nation" sein. "Die Französinnen und der Engländer sind ja auch stolz". Am Stammtisch wird Auschwitz gerne mal eingeebnet, da KZ`s ja von "den Engländern" erfunden worden und "die Russen" haben in ihren Gulags auch Leute umgebracht. Bei einer solchen argumentativen Schieflage ist es einmal mehr angebracht, die Singularität (Einzigartigkeit) von Auschwitz herauszustellen:

Singularität von Auschwitz

Das deutsche Konzentrationslager ist wirklich den concentration camps der Kolonialmächte (z.B. England und Spanien) entlehnt. Im Kolonialismus war die Internierung von Bevölkerungsteilen jedoch nur zeitlich begrenzt, zumeist bis zur Beendigung des jeweiligen Konfliktes. Im Nationalsozialismus waren KZ`s jedoch dauerpräsent und im Bewusstsein der Bevölkerung verankert, was auch schon das einzige Gleichnis zum Sowjetischen Gulag zu sein scheint. Der Gulag war auch eine dauerhafte Einrichtung, aber was ihm nicht vorgeworfen werden kann, ist eine Internierung in die Gulags nach rassistischen, eugenischen und völkischen Kriterien. Dies bleibt den Konzentrationslagern des NS vorbehalten. Dies trifft auch auf die Ausrichtung des gesamten Lagersystems auf die Vernichtung von Menschen zu. Die besondere Qualität speziell von Auschwitz ist also die industrielle Vernichtung von Jüdinnen und Juden nur allein nach biologischen Kriterien (z.B. nach Abstammung und nicht nach Religion oder Bekenntnis), die dem Jude / Jüdin -Sein zugeordnet wurden. Dabei spielte es keine Rolle, was sie politisch dachten, ob es Säuglinge, GreisInnen, ArbeiterInnen oder MillionärInnen waren. Als "Anti -Volk" mussten sie stellvertretend für die abstrakte, universale Seite des Kapitalismus herhalten. Sie waren im antisemitischen Wahn die Verkörperung des "raffenden Kapitals", dem gegenüber der deutsche Nationalsozialismus das "schaffende Kapital" als positiv setzte. Dass die Kategorien "schaffendes" und "raffendes" Kapital nicht haltbar sind, dass sich Kapital nicht auf den / die BesitzerInnen desselben reduzieren lässt, wurde dabei nicht reflektiert. Bösewichte und Schuldige mussten her. In seinem rassisch biologistischen Wahn wollte der deutsche Nationalsozialismus ganze Arbeit leisten und alle TrägerInen des Übels vernichten, egal ob sie BesitzerInnen von Kapital waren, oder ArbeiterInnen, oder Bauern / Bäuerinnen, Neugeborene oder GreisInnen. Hauptsache es sind Juden / Jüdinnen. Auschwitz in seiner Konzeption als Fabrik zur Verbrennung von Juden und Jüdinnen war ein deutsches Projekt und der kapitalistischen Moderne verhaftet. Die Öfen dafür kamen von der Firma Topf & Söhne. Diese wurden nicht aus wirtschaftlicher Not und im Unwissen gebaut. Die Ingenieure waren vor Ort und auch aus Überzeugung in der Sache engagiert. Was hier geleistet wurde, die Gründlichkeit der industriellen Vernichtung der Juden und Jüdinnen, ist nicht gleichzusetzen mit kolonialen concentration camps und sowjetischen Gulags oder der Vernichtung der indigenen Bevölkerung Nordamerikas. Jede Forderung nach Normalität der deutschen Nation ist ein Versuch der Auschwitzrelativierung. Mit dem wieder erstarkenden Antisemitismus in Deutschland und dem neuen nationalen Selbstbewusstsein nach der deutschen Wiedervereinigung darf es keine Ruhe und keinen "Schlussstrich" geben, sondern ein offensives Gedenken und eine Auseinandersetzung mit Auschwitz. Auschwitz ist zwar singulär, es ist jedoch möglich, dass es nicht das Einzige bleibt. Das, was zu Auschwitz führte ist nach wie vor in der deutschen Gesellschaft präsent.

Das Auschwitz nicht noch ein Mal sei (Adorno)



Die BesetzerInnen des ehemaligen Topf & Söhne Geländes